Der untenstehende Artikel von Hilde Meisel erschien in der 8. (Dezember) Ausgabe, Jg. 9. 1934, S. 192 - 201 der "Sozialistische Warte" unter dem Namen Selma Trier. Entnommen ist er dem Archiv der Sozialistischen Warte auf http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm Der Griff nach der Saar Von SELMA TRIER. I. «Als Ersatz für die Zerstörung der Kohlenminen in Nordfrankreich und in Anrechnung auf den Betrag der von Deutschland geschuldeten Wiedergutmachung der Kriegsschäden tritt Deutschland das vollständige und unbeschränkte, von allen Schulden und Lasten freie Eigentum an den Kohlenbergwerken im Saarbecken... mit dem ausschliesslichen Ausbeutungsrecht an Frankreich ab.»" So beginnt der Abschnitt IV des Versailler Vertrages, das sogenannte Saar-Statut. In diesem wird der Wunsch, das Saargebiet von Deutschland abzutrennen, nur notdürftig versteckt hinter einer Formulierung, die den Schein von Gerechtigkeit erweckt. Ueber die Ungerechtigkeiten der Friedensdiktate sich zu beschweren, steht allerdings denen schlecht an, die dies nur tun, wenn sie selber die Benachteiligten sind, im übrigen aber die Gewalt als letzte Instanz zur Entscheidung von Konflikten betrachten, wie es z. B. deren Führer in seinem «Kampf» tut: «Die Natur kennt keine politischen Grenzen. Sie setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiss erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen.» 1918 ist aus dem «freien Spiel der Kräfte» demnach die Entente als «Stärkster an Mut und Fleiss» hervorgegangen. Ihr gebührt also, nach der Theorie Adolf Hitlers, «das Herrenrecht des Daseins», sie hat, nach dieser Theorie, das Recht, von ihrer machtpolitischen Ueberlegenheit so Gebrauch zu machen, wie es ihr passt. Von seiten der Gewaltanbeter ist der Protest gegen jede, auch die gewalttätigste Massnahme der Sieger nichts anderes als der Ausdruck des Neides der Unterlegenen, die sich von den Gegnern das gefallen lassen müssen, was sie selber ihnen zugedacht hatten. Ein Urteil über die Gerechtigkeit des Versailler Vertrages ist überhaupt nur denen erlaubt, die bei allen ihren Urteilen den Masstab der Gerechtigkeit anwenden, die also zwar die Plattheit anerkennen, dass in der Natur der Stärkere Herr ist, die aber daraus nicht auf die Gerechtigkeit dieses Machtverhältnisses schliessen. Dass die deutschen Nationalisten nur Machtanbeter sind, die ihren besiegten Gegnern keine gerechteren Friedensbedingungen zudiktiert hätten, als sie sie selber in Versailles einstecken mussten, geht nicht nur aus dem Vertrag von Brest-Litowsk hervor. Es wird grell beleuchtet in einer, gerade im Zusammenhang mit der Saarfrage interessanten vertraulichen Denkschrift deutscher Annexionisten (von 1917) an die Regierung: «Unsere Staatsmänner, die beim Friedensschluss das Geschick des Deutschen Reichs mitbestimmen, tragen die Verantwortung dafür, dass der kommende Friede alle die für unser Leben, für unsere Volkswirtschaft und Wehrmacht notwendigen fremden Gebiete dem deutschen Reichskörper einfügt. Bei dem von uns verlangten französischen Grenzstreifen handelt es sich nicht um eine Annexion im üblichen Sinne, sondern um eine Einverleibung von Gebietsteilen, die vor Jahrhunderten gewaltsam aus dem Deutschen Reich herausgerissen worden sind. Die Verlegung unserer lothringischen Grenze ist unumgänglich nötig zum Schutz des Deutschen Reichs für den künftigen Kriegsfall, aber auch zur Kräftigung unserer Volkswirtschaft, insbesondere für die Beschäftigung unserer grossen Arbeiterschaft, für die Erhöhung unseres landwirtschaftlichen Bodenertrages und damit für die Verbesserung der Lebenslage jedes Deutschen.» («Zur Einverleibung der französisch-lothringischen Eisenerzbeckcn in das deutsche Reichsgebiet», eingereicht vom Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und vom Verein der deutschen Eisenhüttenleute; unterzeichnet u.a. von Vögeler, der auch heute noch Herrscher des Stahltrusts ist.) II. Auch die Abtrennung des Saargebiets von Deutschland war keine «Annexion im üblichen Sinne». Die Bevölkerung hat das Recht, l5 Jahre nach Inkrafttreten des Saar-Statuts in einer Volksabstimmung kundzutnn, ob sie weiter unter der Verwaltung des Völkerbunds bleiben oder Deutschland oder Frankreich angegliedert werden will. Man braucht nicht Nationalist zu sein, um zu verstehen, dass ein Gebiet mit rein deutscher Bevölkerung den Anschluss an Deutschland wünscht, Ueber diesen Wunsch gab es im Saargebiet auch niemals Meinungsverschiedenheiten, und die Forderung, es ohne Abstimmung Deutschland zurückzugeben, schien berechtigt zu sein. Das ist heute nicht mehr der Fall; denn Deutschland steht jetzt unter dem Terror der braunen Faschisten, und jede Stimme für die Rückgliederung an Deutschland ist heute eine Stimme für Mord und Totschlag, für Konzentrationslager und Krieg. Es ist daher selbstverständlich, dass die Arbeiterparteien des Saargebiets die Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes fordern bis in Deutschland wieder einigermassen zivilisierte Verhältnisse herrschen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass einige Gruppen von Katholiken dazu neigen, sich in diesem Punkt den Sozialisten anzuschliessen, da das Schicksal ihrer Glaubensgenossen in Deutschland sie empört. Damit ist eine bedeutende Bewegung für die Erhaltung des Status quo zustandegekommen, und die Volksabstimmung an der Saar ist nicht mehr eine eigentlich überflüssige Formalität, sondern ein heisser Kampf, dessen Ausgang noch keineswegs sicher ist. In diesem Kampf geht es nicht nur darum, ob weitere 800 000 Menschen dem Faschismus unterworfen werden. Dieser Kampf um die Saar ist durch die Nazis selber zu einer Prestigefrage für Deutschland gemacht worden, sodass eine Niederlage, als was auch eine relativ grosse Stimmenzahl für den Status quo angesehen werden muss, für den Nationalsozialismus, sowohl innenpolitisch als auch aussenpolitisch, eine schwere Schlappe bedeuten würde. Dagegen würde ein Nazisieg, also eine erhebliche Mehrheit für Deutschland, viele ermüdete Kämpfer der Hitlerpartei neu beleben; viele Enttäuschungen über das III. Reich, das anders aussieht, als die meisten es sich vorgestellt haben, würden leichter zu ertragen sein, wenn ihnen hier einmal ein greifbarer Erfolg gegenüberstünde. Der Nazisieg würde ferner die Machthaber Deutschlands zu neuen aussenpolitischen Forderungen ermutigen, und das bedeutet bei der Mentalität der Nazis: zu neuen Aktionen, die den Krieg heraufbeschwören können. Der Kampf für den Status quo ist also nicht nur ein Kampf für die Freiheit der Saarbevölkerung, sondern auch für die Unterhöhlung der Macht des Nationalsozialismus. III. Sind die Sozialisten besser gerüstet, Hitlers Sieg zu verhindern als die Genossen im Reich vor Hitlers Regierungsantritt? Nutzen sie alle in ihrer Macht stehenden Mittel gegen den Faschismus aus? Die Einheitsfront, als Vorbedingung des antifaschistischen Kampfes, ist im Saargebiet verwirklicht, und zwar eine im Grossen und Ganzen wirklich ehrliche Einheitsfront, die unter der einzig vernünftigen Parole kämpft: «Für den Status quo, gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland». Bei den gemeinsamen Aktionen der sozialistischen Parteien hat sich wieder gezeigt, welch belebende Wirkung die Einheitsfront auf die Arbeiterschaft hat. Nie zuvor hat das Saargebiet eine Kundgebung wie die vom 26. August in Sulzbach gesehen, am selben Tag also, als Hitler den Wahlkampf auf dem Ehrenbreitstein eröffnete. Wachsende Siegeszuversicht stellte sich ein, als in einem Ort nach dem anderen gezeigt wurde, dass die «Separatisten» nicht - wie die Nazis immer behauptet hatten - nur 3% der Stimmen erhalten werden. IV. Zur Stärkung der Status quo-Bewegung hat allerdings auch die Tätigkeit einiger katholischer Gruppen beigetragen. Der Christiich-Nationale Volksbund mit seinem Organ, der «Neuen Saar-Post», der bestimmt nicht ohne das Einverständnis hoher kirchlicher Stellen gegründet worden ist, fordert zum Kampf gegen den Anschluss an das III. Reich auf. Gegen diesen Kurs kämpft natürlich die gleichgeschaltete katholische Presse im Auftrage der für das Saargebiet zuständigen Bischöfe von Trier und Speyer aufs schärfste. Allerdings hat sich der durch den Hitler-Terror nicht gefährdete Sonderbeauftragte des Papstes im Saargebiet in dieser Frage öffentlich nicht geäussert. Für viele politisch indifferente Katholiken, die nicht zu Hitler-Deutschland möchten, wird es eine Ermunterung sein, für den Status quo zu stimmen, wenn ein Teil ihrer Glaubensgenossen diese Forderung erhebt. Jedenfalls ist die Kirche als Ganzes nach beiden Seiten gesichert: Katholiken machen sowohl für wie gegen Hitler Propaganda. Die Wahlarbeit gegen den Anschluss an das III. Reich machen die oppositionellen Katholiken zum Teil gemeinsam mit der sozialistischen Einheitsfront. Ist eine solche gemeinsame Aktion mit den Katholiken, den erklärten Gegnern des Sozialismus, für die revolutionäre Arbeiterschaft nicht ein zu weit gehender Kompromiss? Lenin hat in seiner Schrift «Der 'Radikalismus', die Kinderkrankheit des Kommunismus » zur Frage solcher Kompromisse Stellung genommen: «Einen mächtigeren Feind kann man nur unter stärkster Anspannung der Kräfte besiegen, wenn man unbedingt, aufs sorgfältigste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste, jeden -— auch den kleinsten -— 'Riss' bei den Feinden, ...eine jede, auch die kleinste, Möglichkeit ausnützt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag er auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein.» Der Katholizismus ist bestimmt ein solcher unzuverlässiger Verbündeter; aber gerade weil ein «mächtigerer Feind nur unter stärkster Anspannung der Kräfte» besiegt werden kann, muss man den Riss in der katholischen Front und den dadurch entstandenen Riss in der Deutschen Front wahrnehmen, muss man jede Möglichkeit ausnutzen, auch die Stimmen der Katholiken, die nicht auf die Parole der Sozialisten, wohl aber auf die ihrer katholischen Führer hören, für den Status quo zu gewinnen. Dies anerkennen, heisst nicht, eine bedingungslose Verbindung mit den Katholiken im Wahlkampf für richtig zu halten. Der Katholizismus ist und bleibt ein Gegner des Sozialismus. Es ist zwar richtig, den Kampf gegen den Katholizismus im Augenblick zurückzustellen, weil alle Kräfte für den Sieg am 13. Januar eingesetzt werden müssen. Dass aber die grundsätzliche Haltung von Sozialisten gegenüber dem Katholizismus sich deswegen nicht ändert, sollte man gerade bei einer solchen gemeinsamen Aktion nicht in Vergessenheit geraten lassen, Dass bei der gemeinsamen Aktion von Katholiken und Sozialisten im Saargebiet diese Abgrenzung nicht scharf genug vorgenommen wird, zeigte sich z. B. bei der Sulzbacher Kundgebung. Vor 100 000 Besuchern und darüber hinaus Vielen, die durch den Saar-Film einen nachträglichen Eindruck von der Kundgebung erhalten, erklärte der mit jubelndem Beifall begrüsste katholische Geistliche, er spreche auf der Kundgebung, weil der Führer der Kommunisten ihm zugesagt habe, dass die Katholische Kirche in einem roten Saarland volle Freiheit haben würde. Ob Pfordt eine solche Erklärung wirklich abgegeben hat, ist hier unerheblich; jedenfalls hat er nicht gegen diese Mitteilung des Pfarrers protestiert, und die Zuhörer müssen also die Ueberzeugung gewonnen haben, der Kampf gegen den Katholizismus sei von nun an überflüssig, da die Arbeit dieser Kirche sogar im sozialistischen Staat nicht behindert werden würde! Ein zweites Beispiel: In der zur Sulzbacher Kundgebung herausgegebenen Sondernummer der «Volksstimme» schreibt ein katholischer Geistlicher über «Saarfrage und christliche Moral» : «Gerade als Seelsorger, der ein Herz für alle hat, ist es mir besonders lieb, wenn solche (sozialistische) Blätter mein Wort verbreiten, die Leser haben, zu denen sonst seltener ein Priesterwort dringt. Die Zeitung ist für mich eine Kanzel; diese schlage ich am liebsten dort auf, wo keine steht Wer tut, was vor Gott recht ist nach der christlichen Moral, der kann die Folgen seiner Tat getrost Gott überlassen. Man muss heute leider an eine sozialdemokratische Zeitung gehen, um solche christliche Wahrheit publizieren zu können.» Den unzuverlässigen, zeitweiligen Verbündeten in der sozialistischen Presse katholische Propaganda machen zu lassen, geht über das zum Kampfbündnis Erforderliche und Zulässige hinaus. Man muss befürchten, dass es den geschickten Katholiken gelingt, die jetzige Zweckgemeinschaft auszunutzen, unter Sozialdemokraten und Kommunisten «eine Kanzel aufzuschlagen» ! V. Die Aussichten der Anti-Hitler-Front für die Abstimmung sind schwer abzuschätzen, weil die Zahl der am 13. Januar Stimmberechtigten fast um 200 000 grösser ist als bei den Landesratswahlen 1932. Unter den Wahlberechtigten sind viele Tausende, die ihren Wohnsitz schon seit langem nicht mehr im Saargebiet haben, die aus Frankreich, vor allem aber aus Deutschland, z. T. auch aus anderen Ländern -—wie es heisst sogar aus China - zur Wahl herangeholt werden. Ein weiteres Hindernis für eine Wahlvoraussage bilden die Fälschungen der Listen, die auch durch die Kontrollmassnahmen kaum restlos beseitigt sein werden, da die meisten deutschen Beamten Nazi-Anhänger oder verängstigt sind. - Weitere Erschwerungen liegen darin, dass viele Saarbcwohner nicht an die Wahrung des Wahlgeheimnisses glauben, und dass man nicht weiss, wie viele aus Angst vor Repressalien der Nazis trotz ihrer gegenteiligen Ueberzeugung, für Deutschland stimmen, und dass man ferner nicht weiss, ob nicht Göbbels'sche Kreaturen die Stimmscheine zählen, d. h. das Ergebnis erbärmlich fälschen werden. Viele Saarländer sind der Ansicht, dass bei einer wirklich freien und geheimen Wahl eine Mehrheit gegen das III. Reich nicht ausgeschlossen sei. Bei den Landesratswahlen von 1932 hatten die sozialistischen Parteien allein bereits 36% der Stimmen! Es darf aber nicht übersehen werden, dass viele Hitler-Gegner sich scheuen werden, «Landesverrat» zu begehen oder als «Kommunistenfreunde» zu gelten. Beide Befürchtungen nutzt die braune Presse weidlich aus. Hinzu kommt, dass der Dreier-Ausschuss des Völkerbundes, mit einem Faschisten an der Spitze, nichts tut, die berechtigten Sorgen der Bevölkerung, dass bei der Abstimmung ein Gaunertrick an ihnen verübt werde, zu zerstreuen. Hätte er das rechtzeitig getan, so wäre der Kampf für den Status quo viel wirkungsvoller geführt worden. Die «Deutsche Allgemeine Zeitung» schreibt, ent- scheidende Funktionäre des Völkerbundes hätten kein Interesse an der Erhaltung des Status quo, sondern wären froh, wenn sie die Verwaltung über das Saargebiet loswerden könnten. Das wäre an sich zu verstehen, da im Saargebiet viele Gesinnungsgenossen der «DAZ»-Schreiber wohnen, mit denen anständigere Leute nie gern etwas zu tun haben wollen, wenn sie auch die Pflicht hätten, die übrige Bevölkerung des Saargebiets korrekt zu beraten. VI. Die Nazis verfügen in dem Abstimmungskampf in erster Linie über die Drohung mit «1935», infolgedessen über den Beamtenkörper, über den grössten Teil der Presse, durch wirtschaftlichen Druck auch über fast alle Kinos. Sie werden unterstützt durch die deutsche Regierung, die deutsche Presse, vor allem: das deutsche Geld. (Dafür sind sogar Devisen da! Die Devisenüberwachungsstclle teilte der Deutschen Front mit, dass ihr monatlich 100 000 Mark überwiesen werden könnten. (1) Sie arbeiten mit Göbbelsschen Lügen, beschimpfen ihre Gegner als Mörderbande, sorgen für die Entlassung und Boykottierung von «Separatisten», für die Anprangerung der Besucher antifaschistischer Versammlungen, für die Fälschung der Stimmlisten. In ihren Kartotheken notieren sie das Verhalten der einzelnen Saarländer während des Kampfes, z. B. wer linke Zeitungen abonniert oder darin inseriert, wer keine Nazifahncn heraushängt oder sich weigert, in die Deutsche Front einzutreten. Aus Reklamegründen werden Tausende von Saarkindern ins Reich verschickt, damit sie ihren Eltern von den Wundern des Faschismus erzählen, etwa 17 000 Saarländer werden in deutschen Arbeitsdienstlagern militärisch ausgebildet, die dann, wie der preussische Staatsrat und frühere Führer der saarländischen NSDAP, Spaniol, erklärte, «im Ernstfall» unter seiner Führung am 13. Januar ins Saargebiet einmarschieren sollen. SA und SS sind von der Regierungskommission aufgelöst worden. Unter dem Namen «Ordnerdienst», mit angeblich über 10 000 Mitgliedern, überspannen sie das Land, bis in hohe Polizei-, Justiz- und Regierungsstellen hinein, mit ihrem Spitzel- und Terrornetz. Nachdem der Völkerbund den Terror nicht mehr länger ignorieren konnte, und als schliesslich Frankreich für den Fall eines Putschversuchs energisch mit militärischen Massnahmen drohte, erdreistete sich Bürckel, der «Saarbevollmächtigte des Reichskanzlers » am 2. November, «feierlich zu erklären», «für Terroristen ist in unseren Reihen kein Raum», und Pirro, als Führer der Deutschen Front, dieser schlecht getarnten Fortsetzung der NSDAP, fügte hinzu, wer durch eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft nachweislich die Verurteilung eines Terroristen, der sich in die Reihen der Deutschen Front eingeschlichen hat, erziele, erhalte von der Deutschen Front eine Belohnung von 1000 Mark. Selbst Charaktervollere Staatsanwälte als unter Naziterror stehende deutsche Beamte könnten schwerlich in der Deutschen Front einen Terroristen finden, der sich einschleichen musste. Die als Terroristen bekannten Mitglieder der Deutschen Front sind in der Hauptsache ihre Führer und Ehrenmitglieder, die in Saarbrücken und die in der Wilhelmstrasse in Berlin! Deren Terror wird auch nicht dadurch gehemmt, dass Bürckel in seinem famosen Erlass angeordnet hat, vom 10. Januar bis zum 10 Februar seien in einer Zone von 40 Kilometern längs der Saar (auf deutschem Gebiet) das Tragen jeder Uniform sowie alle Appelle, Aufmärsche und Zusammenkünfte verboten. VII. Was geschieht an wirklicher Sicherung gegen Terror und Putschgefahr? Denn dass die Terroristen Zivil anziehen, wird niemand als Sicherung ansehen. Die saarländische Polizei und Justiz sind selber naziverseucht. Die Einstellung von ausländischen Polizeikräften geht sehr langsam vor sich. Die Tätigkeit des vom Völkerbund eingesetzten Abstimmungsgerichts ist nicht so, dass die Nazis dadurch merklich eingeschüchtert würden. Die meisten rechnen damit, dass sie, selbst wenn sie von diesem Gericht verurteilt würden, später, im III. Reich, mit besonderen Ehren, vielleicht sogar mit einem Bonzenposten für die erlittene Strafe entschädigt werden. Was auf die Terroristen weit mehr Eindruck gemacht hat, als alle Beschlüsse und Beschwerden und Aufrufe des Völkerbundes, der Regierungs- und der Abstimmungskommission und ihrer Organe, ist die Drohung Frankreichs, ihnen im Falle von Putschversuch oder Wahlterror in ihrer Sprache, also mit Gewalt, zu antworten. Seit Anfang November bekannt wurde, dass französisches Militär in unmittelbarer Nähe des Saargebiets bereit liege, hat Göbbels in seinem gesamten Pressesumpf einen spontanen Wutausbruch gegen Frankreich organisiert. Der «Völkische Beobachter » spielt sich plötzlich als Anwalt von Völkerbundsbeschlüssen auf, indem er daran erinnert, dass ein Einmarsch französischen Militärs in das «deutsche» Saargebiet nach der in Genf angenommenen Definition des Angreifers eine feindselige Handlung gegen Deutschland bedeute. Die «Nachtausgabe» fordert ausgerechnet von Frankreich Garantien für die Freiheit der Abstimmung! Dass die Drohung Frankreichs trotzdem die Faschisten einigermassen eingeschüchtert hat, geht aus den verschiedenen diplomatischen Aktionen Hitlers in London, Paris und Brüssel hervor, sowie aus den bereits erwähnten Aufrufen von Bürckel und Pirro. Um aber nicht den Anschein zu erwecken, als befänden die Nazis sich in der Verteidigung, drehen sie sofort den Spiess um: Der «Völkische Beobachter» vom 9. November 1934 schreibt: «Das unfaire Mittel der Kanonen-Bedrohung bezweckt nur die Beeinflussung der Bevölkerung und der Abstim- mung. Deutschland verlangt mit gutem Recht eine für alle gültige unbeeinflusste Wahlpropaganda, die ebenfalls heute nicht mehr vorhanden ist. Die im Saargebiet gänzlich wurzellosen politischen Emigrantenschichten arbeiten heute nur im Dienste Frankreichs und versuchen, alles zu tun, um die Bevölkerung gegen Deutschland aufzuwiegeln. Als Kampfzentrale gegen Deutschland erhalten sie durch das Vorgehen Frankreichs eine ganz besondere Rückenstärkung.» Auf demselben verlogenen Niveau steht der Bericht des «Saarbevollmächtigten » Bürckel vor dem Dreierausschuss des Völkerbundes in Rom, über den das Deutsche Nachrichten-Büro berichtet: «Mit Nachdruck hat er dargelegt, dass von deutscher Seite niemals eine Putschabsicht gegenüber dem Saargebiet bestanden hat... Dagegen bilden einen ständigen Unruheherd die Emigranten, die - wie einwandfrei bewiesen ist - unter den Augen der Regierungskommission und mit Unterstützung der französischen Bergwerksdirektion geradezu im Bandenkrieg ausgebildet werden. Wenn der Saarbevollmächtigte nun in Rom entschieden die Ausweisung der Emigranten aus dem Saargebiet gefordert hat, so hat er auch dieses Verlangen nur im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens gestellt. ...Die deutsche Forderung bleibt also folgerichtig: Zurücknahme der Einmarschbereitschaft der französischen Truppen und Entfernung der Emigranten aus dem Saargebiet.» Die deutschen Nazis wollen also Ruhe geben, wenn alles, was sie ärgert, freiwillig unterlassen wird. VIII. Da das nicht zu erwarten ist, ist die brennendste Frage: Wird es zum Putsch oder gar zum Krieg kommen? In Deutschland gehen beharrlich Gerüchte um, dass es in diesem Winter wegen der Saarfrage wohl noch Krieg geben wird. Immer wieder tauchen Mitteilungen auf über Beschlüsse von SA-Leitungen, die Formationen der SA und des Arbeitsdienstes im Januar für den Einmarsch ins Saargebiet bereitzuhalten. So erklärt z. B. der englische Journalist Wickham Steed, er wisse aus sicherer Quelle, dass Göring den Führern der SS erklärt habe, spätestens Ende Januar, auf jeden Fall vor dem Völkerbundsbeschluss über das Saargebiet, würde der Marschbefehl gegeben werden. Sogar Reichswehraufgebote sollen angeblich, ohne Uniform, an der Grenze des Saargebiets stationiert worden sein. Wird es also zum Krieg kommen? Obgleich SA und SS sich wohl wirklich darauf vorbereiten, ist es nicht sehr wahrscheinlich. Denn wenn auch die Regierung, angesichts ihrer wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten, gerade in diesem Winter einer grossen Ablenkungsaktion sicher nicht abgeneigt wäre, werden die Generäle gegen übereilte Aktionen sein. Sowohl militärisch als auch aussenpolitisch ist das Risiko ungeheuer gross, umso mehr als keiner der sonst für den Kriegsfall in Frage kommenden Verbündeten Deutschlands einem solch leichtfertigen Husarenstreich Unterstützung leihen würde. Andererseits werden auch die Franzosen nur im alleräussersten Fall ihre Truppen ins Saargebiet marschieren lassen. Deshalb ist es leicht möglich, dass sogar ein etwaiger Naziputsch nicht zu grösseren kriegerischen Verwicklungen führt, dass er entweder, wie im Juli in Oesterreich, im Sande verläuft, oder aber dass er - weil niemand des Saargebiets wegen einen Krieg riskieren will - die Nazis wirklich zu Herren des Saargebiets macht und der Völkerbund dies nachträglich als Recht bezeichnet. IX. Rücksichtslosen Burschen wie den deutschen Nazis gegenüber hilft nur entschlossenes Auftreten und gesammelte Kraft. Beides nach Möglichkeit zustande zu bringen, ist die Aufgabe der deutschen Freiheitsbewegung, die sie durchaus erfüllen kann, wenn sie in der noch zur Verfügung stehenden Zeit umsichtig und mutig operiert. Es muss aber schon heute verlangt werden, dass die grossen Arbeiterorganisationen der anderen Länder sich rechtzeitig darauf besinnen, dass nicht auch hier wieder, wie im Fall der österreichischen und spanischen Genossen, die Betätigung internationaler Solidarität im Absenden brüderlicher Grüssc und warmer brieflicher Sympathie-Beteuerungen anderer Art bestehen darf. Es genügt nicht, Jemandem Mut zuzusprechen, ohne Ueberlegungen anzustellen, was mit ihm geschieht, wenn Unglück und übermächtige Gegner gemeinsam über ihn herfallen. Je mehr wirkliche Beweise internationaler Gesinnung und Taten die Genossen im Saargebiet erfahren, umso mehr werden sie dem weiteren Vordringen des Faschismus Trotz bieten. (1) «Temps» Nr. 26744, vom 21. November 1934.