Hilde Monte : Die Erschliessung Polens. Der Panzer. In alten Sagen ist manchmal von Rittern die Rede, die, um sich vor allen feindlichen Geschossen zu schützen, einen Panzer anlegen, der so schwer ist, dass sie unter ihm zusammenbrechen. So etwa geht es Polen. Es fürchtet den östlichen Nachbarn, der früher Beherrscher Polens war und jetzt Sowjetmacht ist. Es fürchtet den westlichen Nachbarn, weil kein Freundschaftspakt sichern kann, dass nicht Hitler eines Tages versuchen wird, die «deutschen Brüder» in Oberschlesien und dem Korridor zu «befreien» oder Polen als Aufmarschgebiet gegen Russland zu benutzen. Darum rüstet Polen gegen Ost und West. Die Armee ist modern; das Eisenbahnnetz ist nach strategischen Gesichtspunkten aufgebaut und die Handelspolitik auch. Jetzt wird in Sadomir, im Innern des Landes, ein strategisches «Industrie- Dreieck» errichtet, damit nicht gleich beim ersten Ansturm der deutschen Armee die ganze Rüstungsindustrie dem Lande entrissen werden kann. — Manche schätzen, dass die Landesverleidigung annähernd die Hälfte des Volkseinkommens verschlingt. Das Land trägt einen starken Panzer, und er wird ständig verstärkt. Aber die, die ihn tragen sollen (die Bevölkerung von 34 Millionen) sind hoffnungslos arm. Werden sie fähig sein, ja, werden sie überhaupt bereit sein, diesen Panzer zu tragen, wenn er «im Ernstfalle> mit seinem ganzen Gewicht auf ihnen lastet? Die Regierung hat den Versuch unternommen, der Bevölkerung etwas zu geben, was ihr verteidigenswert erscheinen soll: Seit dem Weltkrieg sind 2,4 Millionen Hektar Grossgrundeigentum für die Agrar- reform enteignet worden, und die Flurbereinigung hat erhebliche Fortschritte gemacht. «Durch die Reform sollte die breite Landbevölkerung gegen den benachbarten russischen Bolschewismus immunisiert und dem polnischen Staatsgedankcn gewonnen werden», schreibt das Institut für Osteuropäische Wirtschaft (in «Polen und seine Wirtschaft», 1937) und gibt damit zweifellos die Absichten der Regierung richtig wieder. Während aber die Grossgrundeigentümer beim Verkauf ihres Landes an den Staat ein glänzendes Geschäft machten, erhielten die Bauern nicht genug Land, und die rasch zunehmende Bevölkerung wurde nicht vor wachsender Verelendung bewahrt (1920 betrug die Bevölkerung 26,7 Millionen, 1937 bereits 34 Millionen). Vor allem aber erhielten die Bauern nicht die Mittel, um aus dem Lande herauszuwirtschaften, was sich hcrauswirtschaften lässt. 80 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Lande, und 28 Prozent der Landbevölkerung sind Analphabeten. Ueber die Verwendung von Maschinen kann man sich ein Bild machen, wenn man erfährt, dass in Polen auf 1000 Einwohner 0,7 Automobile kommen. [1]) In ganz Polen gibt es 20000 Personenkraftwagen und 5000 Lastwagen! Allerdings gibt es auch fast nur in den Städten und in Schlesien Autostrassen. Im übrigen Lande fährt man auf holprigen Strassen oder gewöhnlichen Feldwegen. «Die Chauffeure fahren meistens auf der falschen Strassenseite», wurde kürzlich auf einer Strassenbaukonferenz berichtet. («The Central European Observer», Prag, vom 8. 7. 1938.) Kapitalmangel. Aber die Zurückgebliebenheit des Strassenwesens ist, obwohl sie dem Besucher zuerst ins Auge fällt, nur eine Seite der Kapitalarmut des Landes. Im Dorf lastet die Kapitalarmut auf der gesamten Wirtschaftstätigkeit der Bevölkerung, ein Hemmschuh für den Fortschritt. So hält man immer noch, anstatt durch intensive Bodenbewirtschaftung der wachsenden Bevölkerung Lebensraum zu schaffen, an der Dreifelderwirtschaft2) fest (in England schaffte man sie vor etwa 150 Jahren ab!), und die Erträge liegen, verglichen mit anderen Ländern, unter dem Durchschnitt. Bei dieser Form der Bewirtschaftung kann nicht die gesamte Landbevölkerung Arbeit finden. Etwa die Hälfte der Dorfbewohnerschaft wird als überflüssig betrachtet, müssige Esser, die den anderen zur Last fallen. Eine Zeit lang hatten sie Aussicht, auszuwandern. Es gab eine Art Exporthandel mit polnischen Arbeitern, nach Deutschland, Belgien, besonders nach Frankreich. Seit 1931 wird die Lage durch Abwanderung nicht mehr erleichtert. Auch die Industrie bietet keinen Ausweg. Sie ist noch weit vom Beschäftigungsstand von 1928/29 entfernt. Die Zahl der registrierten Erwerbslosen liegt über 500 000 — und die Zahl der in industriellen Unternehmungen (mit mehr als 20 Arbeitern) Beschäftigten beträgt kaum 650 000. Insgesamt gibt es 2-3 Millionen nicht-landwirtschaftliche Arbeiter. Ihre Zahl wächst keineswegs entsprechend der zunehmenden Bevölkerungsdichte. Zwar ist die Industrie nicht in gleichem Masse wie die Landwirtschaft von der Kapitalzufuhr abgeschnitten; denn während in der Landwirtschaft heute nicht leicht grosse Geschäfte zu machen sind, lässt sich an der Rüstung und auch an der Ausfuhr Geld verdienen. In der polnischen Industrie ist bereits sehr viel Ausländskapital investiert worden, das in erster Linie aus Frankreich und Belgien, und in geringerem Umfange aus den U.S.A. und Deutschland kommt. Ueber 50 Prozent des Kapitals der Aktiengesellschaften befinden sich in nichtpolnischen Händen. Aber trotz der reichlicheren Kapitalzufuhr entwickelt sich kein nennenswerter Binnenmarkt, der auf Erweiterung der Industrieproduktion drängt. Die Industrie braucht man in erster Linie aus strategischen Gründen und für die Ausfuhr. Wenn auch die Bevölkerung wächst: die Nachfrage nach Waren steigt nicht — aber das Elend. 5 Millionen zu viel ? In einer Untersuchung über «Die Agrarische Uebervölkerung Polens » berechnet Theodor Oberländer, dass es in Polen 5 Millionen Menschen zu viel gibt, wenn man 5 Hektar pro Kopf der landwirtschaftlich erwerbstätigen Bevölkerung rechnet. (In Dänemark kommen 6 Hektar auf jeden landwirtschaftlich Erwerbstätigen.) Da zu viel Menschen da zu sein scheinen, wird der Hass der Verelendeten von der herrschenden Klasse immer wieder auf irgendwelche Sündenböcke gerichtet, meist auf eine der Minderheiten, vor allem auf die Juden. Es gibt über 2 Millionen Juden, von denen ein grosser Teil den Handel weitgehend bestimmt und deshalb von den Bauern als natürlicher Feind betrachtet wird. So ist es denn der Antisemitismus, der in vielen Polen Sympathien für Hitler erweckt. Manche meinen, Polen brauche Kolonien für seine überflüssige Bevölkerung. Die Frage ist aber: Woher soll es das Kapital zum Ausbau der Kolonien und zur Umsiedlung der Bevölkerung nehmen? Und: wenn es dieses Kapital beschaffen könnte, warum sollte es dieses dann nicht lieber zur Entwicklung des eigenen Landes verwenden? Drei Möglichkeiten. Wie kann Polen überhaupt aus dem Elend herauskommen? In grossen Zügen kann man drei Wege sehen: Entweder die überflüssige Bevölkerung wird durch Hunger oder Krieg aus dem Wege geschafft, oder durch Massenauswanderung, oder ihr wird durch Kapitaleinfuhr im Lande selber ein Lebensraum geschaffen. Verhungern lassen, das ist der Weg, den man bisher eingeschlagen hat. Der Geburtenüberschuss ist seit 1925 bereits um ein Drittel gesunken. Sollen Kriege und Epidemien diese Entwicklung verstärken? Dass von der Auswanderung heute nicht viel zu erhoffen ist, wissen polnische Arbeiter so gut wie deutsche Emigranten. Wo ist das Land, in dem man bereit wäre, 5 Millionen Menschen aufzunehmen — und den weiteren Zuwachs der polnischen Bevölkerung auch? Was für Möglichkeiten bietet die Kapitaleinfuhr nach Polen? Die Tatsache, dass die bisherigen Investitionen des Auslandes nicht zum Aufbau einer bodenständigen Industrie geführt haben, beweist nicht, dass ein solcher Aufbau aussichtslos ist. Nur fehlen vorläufig einige Voraussetzungen: es fehlt der Markt für die Erzeugnisse der Industrie. Eine Textilfabrik zu errichten, Arbeiter zu Hungerlöhnen zu beschäftigen (sie kommen trotzdem, denn natürlich übertrifft jeder noch so geringe. Lohn das, was sie in der Landwirtschaft verdienen können!) und dann einen Grossteil der Erzeugnisse auszuführen, weil man sie im Inland doch nicht verkaufen kann — daran mögen Einzelne sich bereichern können; aber die Massen haben nichts davon. Sie haben auch nichts von einem Zwanzigjahresplan für den Strassenbau, der jetzt in Angriff genommen werden soll, wenn nicht gleichzeitig den Bauern geholfen wird. Die Strassen werden leer bleiben, wenn die Bauern nichts kaufen und verkaufen können. Die Kapitalinvestition muss in Polen auf dem Lande einsetzen! Die Bauern müssen mit modernen Methoden der Landwirtschaft vertraut gemacht werden, sie müssen Maschinen und Düngemittel erhalten. Dazu ist wiederum Voraussetzung, dass das Analphabetentum beseitigt und der Bildungsstand der Bauern gehoben wird, damit sie fähig werden, moderne Methoden anzuwenden. Dadurch und durch die Verbesserung des Verkehrs- und Genossenschaftswesens können die Grundlagen für die polnische Industrie geschaffen werden! In dem Masse, in dem dieser Binnenmarkt sich entwickelt, kann dann die Industrie mit Nutzen für die Massen aufgebaut werden. Und Industrie und Landwirtschaft werden dann wahrscheinlich imstande sein, den Bevölkerungs-«Ueberschuss » aufzusaugen. Die Verwirklichung. Eine solche Entwicklung erfordert Zeit und ist nicht unmittelbar ertragreich. Sie ist daher für private Kapitalisten nicht besonders interessant. Regierungsunterstützung ist erforderlich. Der polnischen Regierung stehen zwar keine grossen finanziellen Mittel zur Verfügung, dafür aber Reserven an Arbeitskräften, von denen sie für den Aufbau Gebrauch machen kann. Für die Versorgung der Bauern mit landwirtschaftlichen Geräten u. s. w. wird die Unterstützung ausländischer Regierungen notwendig sein, die mindestens Anleihen der polnischen Regierung garantieren müssten. Wenn solche Garantien gegeben werden, wird sich ein Teil des Kapitals auch in Polen auftreiben lassen, und es wird bei dieser Gelegenheit wahrscheinlich auch möglich sein, den landesüblichen Zinssatz herunterzudrücken. Die Realverzinsung polnischer Staatsanleihen beträgt gegenwärtig 12 Prozent! Hat das Ausland Grund, zu helfen ? Die erforderliche Hilfe kann nur von den Grossmächten geleistet werden. Was könnte diese dazu bewegen, die wirtschaftliche Erschliessung Polens zu ermöglichen? Mitleid mit den Hungernden bestimmt nicht! Wohl aber lassen gewisse ökonomische und politische Erwägungen ein solches Projekt lohnend erscheinen. England hat ein starkes ökonomisches Interesse an der Entwicklung des polnischen Binnenmarktes. Denn in vielen Ländern, besonders in den ballischen und skandinavischen, ist Polen der erfolgreichste Konkurrent des englischen Kohlenexports. Die polnische Kohlenausfuhr würde aber rasch abnehmen, wenn der Industrieverbrauch in Polen selber zunehmen würde. Und die polnische Kohle würde nicht mehr so billig sein, wenn die Löhne in Polen steigen würden. Darüber hinaus würde die Erschliessung Polens den Industrieländern, besonders denjenigen, die sich an dieser Erschliessung beteiligen werden, einen ständigen Markt bieten. Konjunkturpolitisch, wäre gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, ein solches Programm in Angriff zu nehmen, als Mittel gegen die sich entwickelnde Wirtschaftskrise. Politisch kann Polen Schlachtfeld des Krieges oder Bollwerk des Friedens werden — und es wird nicht zuletzt vom Wohlstand seiner Bevölkerung abhängen, was es wird. Durch eine wirtschaftliche Erschliessung Polens kann erstens seine politische Stabilität und Widerstandskraft gestärkt werden; zweitens werden die Mächte, die Polen zu dieser Entwicklung verhelfen haben, auf seine Mitarbeit in internationalen Angelegenheiten rechnen können, vor allem, wenn die Massen der Bevölkerung, die weitgehend demokratisch und antifaschistisch eingestellt sind, ein grösseres Gewicht in der politischen Gestaltung Polens erhalten. Die Arbeiterschaft sowohl als auch Teile der Bauernschaft sind sehr kampfbereit — man hat in Polen Sitzstreiks durchgeführt, ehe man sie in Westeuropa auch nur dem Namen nach kannte, und man kennt in Polen Bauernstreiks, die u. a. gegen die Regierungsdiktatur zur Erkämpfung grösserer politischer Freiheiten geführt werden. Es ist darum leicht möglich, dass die wirtschaftliche Erschliessung Polens zu einer Stärkung der antifaschistischen Kräfte in Osteuropa führt. In Verbindung mit der in Südosteuropa erforderlichen wirtschaftlichen Hilfe kann der Handel zwischen diesen Ländern und Polen gefördert werden — woran Polen bereits jetzt starkes Interesse hat; denn es fürchtet, von seinen mächtigen Nachbarn abhängig zu sein, wenn es seine eigene Handelspolitik nicht auf die Nord-Süd-Linie einstellt. Damit wäre aber auch eine der Voraussetzungen für eine engere politische Zusammenarbeit zwischen diesen Staaten erfüllt. So könnte denn jener «Sanitätsgürtel» Zustandekommen, den manche um Russland und andere um Deutschland legen möchten. Die gegenwärtigen Machthaber Polens möchten ihn nach beiden Seiten festigen. Da weder mit einem Angriff dieses Blocks gegen die Sowjet-Union zu rechnen ist, noch damit, dass er eine etwa im Reifen begriffene Revolution in einem der ihm angeschlossenen Länder aufhält, scheint heute viel für ihn zu sprechen. Er würde helfen, Deutschlands «Drang nach dem Osten» energisch Einhalt zu gebieten. Gerade dazu würde eia solcher Block nur dann tauglich sein, wenn ihm ein wirtschaftliches Gleichgewicht zu Grunde liegt, das nicht in jedem Augenblick vom Weltmarkt her, durch innere Krisen oder durch Druck von Seiten Deutschlands, erschüttert werden kann. Darum gehört zu einer konstruktiven europäischen Politik die wirtschaftliche Erschliessung Polens. [1]) In der Tschechoslowakei sind es 21,6, in Dänemark 35,2, in Frankreich 49,2. [2]) Bei der Dreifelderwirtschaft wird jedes Jahr die angepflanzte Frucht gewechselt, und ein Drittel des Bodens liegt jeweils brach.