Der untenstehende Artikel von Hilde Meisel erschien in der Nr. 12 (25.03.1938), Jg. 13. 1938, S. 267 - 270 der "Sozialistische Warte" unter dem Namen Hilda Monte. Entnommen ist er dem Archiv der Sozialistischen Warte auf http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm H-Monte: „"Evolutionärer Kommunismus". Das weggelassene Fragezeichen, Vor einigen Monaten erschien in England die 2. Auflage des Russland- Buches von Sidney und Deatrice Webb. Die erste, von 1935, hiess: «Sowjet-Kommunismus. Eine neue Zivilisation?» Die neue, vom kommunistisch orientierten Left Book Club herausgegebene Auflage heisst: «Sowjet-Kommunsimus. Eine neue Zivilisation.» Den 1193 Seiten der ersten Auflage sind 72 Seiten angefügt worden, um das Weglassen des Fragezeichens zu rechtfertigen, obwohl die Verfasser in wenigen Worten erklären, was nach ihrer Meinung das Wesen der neuen Zivilisation ausmacht: «Wir finden in der URSS kein Zeichen für eine Abschwächung des strengen Verbots des Privatprofits, und das heisst, dass sowohl das Kaufen von Waren mit dem Ziel, sie teurer zu verkaufen (als Spekulation bezeichnet), verboten ist, als auch das Einstellen von Arbeitern mit dem Ziel, an dem Produkt ihrer Arbeit zu verdienen (als Ausbeutung bezeichnet).» Drei Fünf Jahrpläne haben den Beweis erbracht, dass wirtschaftliches und kulturelles Planen in grossem Massstabe praktisch möglich ist. Die Preise werden nach dem Gebrauchswert und nicht nach dem Tauschwert festgesetzt. Diese drei Faktoren «weichen, wie uns scheint, so entschieden von der notwendigen Grundlage der kapitalistischen Organisation ab, die sich während der letztvergangenen vier Jahrhunderte über der westlichen Welt ausgebreitet hat, dass es sich unbedingt hier um eine neue Zivilisation handelt.» (S.1214.) Um das «Weglassen des Fragezeichens», wodurch eine Bewertung der «neuen Zivilisation» ausgedrückt wird, zu begründen, stellen die Verfasser die Errungenschaften der SU in den letztvergangenen zwei Jahren dar und setzen sich mit einigen Vorwürfen auseinander, die gegen das dort herrschende System erhoben werden. Statistik der Freiheit. Die neue Verfassung, - welch ein Triumph der Demokratie! Fast können die Webbs ihn statistisch erfassen: Auf die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs «folgte eine über das ganze Land sich erstreckende Diskussion, die sich mit allen 13 Kapiteln und 146 Paragraphen des Entwurfs befasste, eine öffentliche Diskussion von einem nie dagewesenen Ausmass. Das Dokument wurde im Wortlaut veröffentlicht, nicht nur in Tausenden von Zeitungen, sondern auch in billigen Broschüren, in insgesamt 60 Millionen Stück in einem Dutzend verschiedener Sprachen. Zahllose Radiosender verbreiteten es für die horchenden Massen vor Tausenden öffentlicher Lautsprecher und vor zwei Millionen privaten Empfangsgeräten. Unzählige öffentliche Versammlungen wurden abgehalten - dem Bericht nach 527 000 - für die Bekanntgabe und freie Diskussion des Entwurfs in Fabriken und Farmen, Dorfstrassen und Stadthallen, von der polnischen Grenze bis zur pazifischen Küste. Die Gesamtbesucherzahl wurde auf 36,5 Millionen geschätzt. Daraufhin gingen mehr als 150 000 Vorschläge und Kritiken bei den 12 in Moskau tagenden Kommissionen ein. Diese fassten sie zu etwa 100 nützlichen Vorschlägen zusammen, die sich zum grössten Teil auf zufällige Auslassungen im Text oder sprachliche Verbesserungen bezogen. Ausserdem wurden dem Kongress etwa ein halbes Dutzend wichtiger Aenderungsanträge zur Annahme empfohlen. Im November 1936 versammelte sich der besonders zu diesem Zweck gewählte (achte und letzte) Allrussische Kongress im Grossen Saal des Kreml, 2016 Delegierte, die 63 Nationalitäten und Rassen aus allen Teilen der Sowjet- Union vertraten. Nach zehn Tagen lebhafter Diskussion, in der alle sich zum Wort meldenden Delegierten gehört wurden, wurden die empfohlenen Zusatzanträge durch Zuruf oder grosse Mehrheiten angenommen, und der geänderte Entwurf, am 5. Dezember 1936, schliesslich einstimmig angenommen.» (S.1147.) Schutz vor Willkür. Aber nicht nur die statistisch zu erfassende «Demokratie» ist durch die Verfassung gesichert. Diese enthält vielmehr eine neue Erklärung der Menschenrechte, die alle früheren Erklärungen dieser Art - nach Meinung der Webbs - in den Schatten stellt: «Im Jahre 1936 sichert die Sowjet-Verfassung jedem Staatsbürger nicht nur Schutz gegen Ueberfall und willkürliche Verhaftung ... .» (S. 1150.) Weiter brauchen wir nicht zu lesen - nur noch das lakonische Ende der seitenlangen Hymne auf die Papier-Verfassung: «Es muss jedoch im Auge behalten werden, dass auf die Dauer Verfassungen nicht danach beurteilt werden, was in ihnen steht, sondern danach, wie sie funktionieren oder angewandt werden!» (S.1151.) Das Ideal der Ungleichheit. Wie die Verfassung angewandt wird, behalten die Verfasser jedoch nicht im Auge. Hingegen greifen sie die Frage auf, was es mit dem Vorwurf auf sich habe, dass die Einkommensunterschiede in der Sowjet- Union phantastisch wüchsen. Schliesslich war die Tatsache, dass eine wesentliche Ausgleichung der Einkommen in fortschreitendem Masse zu beobachten war, ja bereits in der ersten Auflage einer der Gründe dafür, dass den Webbs der Sowjet-Kommunismus als neue Zivilisation erschien. Dass jene Ausgleichung rasche Fortschritte macht, sollte man um so eher annehmen, als auf der vorletzten Seite des Buches zu lesen steht: «Das gesamte Nettoprodukt der Gemeinschaft wird in der Tat unter denen •verteilt, die an seiner Herstellung beteiligt gewesen sind, und so wie sie es selber beschliessen ... .» (S. 1215.) Sie selber beschliessen nun - nach Webbs' -—, dass zwischen den höchsten und niedrigsten Einkommen ein Unterschied bestehen soll, der zwar vielleicht nicht so gewaltig ist wie in Amerika, aber doch wohl so gross wie in England (S. 1207). Was veranlasst nun die Arbeiter der SU zu einem solchen Beschluss? Bei dem Versuch, dieses Rätsel zu lösen, entdecken die Verfasser plötzlich, dass die Ungleichheit ungefährlich sei, solange es keine Ausbeutung gäbe, und die könne es nicht geben dank der Abschaffung von Handel und Lohnarbeit für den Privatprofit. Ferner fällt ihnen plötzlich auf, dass die Bedürfnisse der Menschen verschieden seien, und daher die soeben verherrlichte Einkommensgleichheit gar keine Gleichheit der Interessenbefriedigung bedeuten würde, dass man im übrigen von Menschen, die fähig sein sollen, schwierige und verantworlungsbewusste Arbeit zu leisten, nicht erwarten könne, dass sie unter den ärmlichsten Verhältnissen leben, und dass schliesslich das Ziel nicht die Gleichheit im Elend sei, sondern die Erhöhung des Wohlstandes, bis auch die ungelernten Arbeiter so gut bezahlt werden könnten, wie die qualifizierten schon jetzt bezahlt werden. Dann also doch wieder Einkommensgleichheit? Wie eine Seifenblase löst sich so das Problem der Einkommensungleichheit in der SU auf. Düstere Schatten. Aber düsterer sind die Schatten, die von anderer Seite auf die SU geworfen werden: durch die Moskauer Prozesse und Erschiessungen. Die Webbs bringen folgende «philosophische» Theorie vor, um Stalins Verfolgungswahn und die Aktionen seiner Gegner zu erklären: Die alten Bolschewiken sind es nie gewohnt gewesen, mit offnen Karten zu spielen. Instinktiv greifen sie immer wieder zu den alten konspirativen Methoden, wenn sie mit den Verhältnissen unzufrieden sind. Darum traut Stalin keinem, und darum verschwören sich die anderen gegen ihn. Das lässt sich nicht ändern bei konspirativen Revolutionären, wenn sie auch keine «Verbrecher im üblichen Sinne des Wortes» sind (S. 1157). Das wird auch nicht anders werden, ehe nicht die ganze Generation der alten Bolschewik! ausgestorben ist (ein Ziel, dem Stalin uns ja näher bringt!). Historisch wird nachgewiesen, dass Terror und Verfolgungspsychose in Revolutionsbewegungen anderer Länder viel länger als 20 Jahre gedauert haben. Das Ergebnis dieser Untersuchung scheint also zu sein, dass beide Seiten weder Recht haben, noch aber für ihre Taten voll verantwortlich gemacht werden können. Da aber die Anschuldigungen gegen Trotzki nicht bewiesen werden konnten, gewann dieser eine gewisse Sympathie im Westen: «Diese Sympathie führt dazu, dass man nicht nur Trotzkis wiederholte Forderungen und Aufreizungen zum Sturz des Stalin-Regimes vergisst, sondern auch die Tatsache, dass Trotzki und die Trotzkisten in Amerika und Westeuropa zugegebenermassen versuchen, überall die gewaltsame Revolution hervorzurufen, im Gegensatz zu Stalins Herrschaft, die, wie wir es beschrieben haben, in den vergangenen zehn Jahren diese Taktik ersetzt hat durch die Politik des 'Aufbaus des Sozialismus' in der Sowjet-Union, in der Hoffnung, dadurch die Welt in der Richtung zum Kommunismus beeinflussen zu können, nicht durch revolutionäre Einbrüche in andere Länder, sondern durch das friedliche Beispiel der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften in der Sowjet- Union.» (S. 1157.) Diese Sätze erklären, warum zwei alte Fabier sich entschliessen, dem respektablen Bürgertum ihres Landes den Kommunismus als neue Zivilisation anzubieten. Sie selber konnten dabei ihren alten «Idealen» treu bleiben, denen gemäss das Wohl der Menschheit von der Macht des guten Beispiels und der Lehren der «aufgeklärten» Fabier abhängt. Als vor 18 Jahren H. G. Wells, ebenfalls Mitglied der Fabian Society, in Moskau Lenin besuchte, war die Haltung der russischen Kommunisten . noch völlig anders; da widersetzten sie sich den Lehren ihrer englischen Gäste, jenen Lehren des «evolutionären Kollektivismus». Da sagte Lenin über Wells: «Das ist aber ein Philister. Ein ungeheuerlicher Spiesser!» Stimmzettel statt Geistesfreiheit. Als Vertreter des westlichen Liberalismus können sich die Webbs nun allerdings dem Einwand nicht ganz verschliessen, dass in Russland keine Geistesfreiheit herrsche. Sie halten sie aus mancherlei Gründen für wünschenswert, ihr Fehlen - so meinen sie - könne in der Tat den künftigen Fortschritt gefährden; Stalin habe das auch bereits 1931 erkannt, als er auf eine veränderte Behandlung der Intellektuellen drängte. Die dann einsetzende Verschwörungswelle und ihre Unterdrückung hätten aber den Fortschritt in dieser Richtung aufgehalten. Indessen: die Tatsache, dass die früheren «Weissen», sogar Mitglieder der zaristischen Polizei und Priester, nun das Stimmrecht haben und in Gewerkschaften aufgenommen werden, «gibt Anlass zu der Hoffnung, dass in dem Masse, wie die unmittelbare Gefahr der Konterrevolution und des Angriffs von aussen abnimmt, die Unterdrückung und Entmutigung des unabhängigen Denkens, selbst wenn es sich auf die grundlegendsten Fragen richtet stillschweigend aufgegeben wird». (S. 1213.) (, Der logische Gedankengang, der zu diesem Optimismus führt, ist klar: Die Webbs setzen «Freiheit» und «Abstimmen» gleich, -— wie sollte also nach der Einführung der Abstimmung die Geistesfreiheit in der SU nicht gesichert sein? Der «Beweis» kann auch anders geführt werden: Ausbeutung = Handel und Lohnarbeit für privaten Gewinn. Beides ist verboten. Also kann es keine Ausbeutung geben. Diesem materiellen Unterbau muss aber «theoretisch» auch der ideologische Ueberbau entsprechen. Also brauchen die Webbs sich über das bedauerliche Fehlen der geistigen Freiheit keine grossen Sorgen zu machen. So sehen sie hoffnungsvoll in die Zukunft und entrollen auf der letzten Seite das Idealbild der neuen Zivilisation: «Der Leitfaden im Leben eines Jeden muss sein: nicht pekuniärer Vorteil für irgend einen, sondern das Wohl der Menschheit, jetzt und für alle Zeiten. Denn es ist klar, dass jeder Erwachsene der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet ist, die ihn geboren und aufgezogen, umsorgt, ernährt, gekleidet und erzogen hat und die für seinen Unterhalt sorgte. Jeder, der weniger, als in seinen Kräften steht, an der Arbeit teilnimmt, ist ein Dieb und sollte als solcher behandelt werden. Das heisst, er soll zwangsweise an Leib und Seele reformiert werden, damit er ein nützlicher und glücklicher (!) Bürger werde. ... Das einzige gute Leben, das er (der Bürger) erstrebt, ist ein Leben, das gut ist für alle, welchen Alters und Geschlechts, welcher Religion und Rasse sie auch angehören mögen.» Wir, die wir «keine Verbrecher im eigentlichen Sinne des Wortes» sind, sondern nur Revolutionäre, und die wir uns nicht als Idealzustand des Sozialismus erträumen, uns von den jeweiligen Machthabern durch Zwang an Leib und Seele zu «glücklichen» Bürgern umkrempeln zu lassen, können uns mit dem Glauben daran trösten, dass die Geschichte nicht nach dem Webbs'schen Rezept verläuft: der Kapitalismus wird nicht an Stalins gutem Beispiel zu Grunde gehen. Dass aber die Kommunisten diese Fabianisierung der SU nicht ablehnen, ja, dass der ihrem Einfluss unterworfene Left Book Club dies Buch in einer für Arbeiter erschwinglichen Ausgabe herausgibt, entspricht nur der jetzigen Linie der KP, derzufolge die Ansicht, sie wolle die Weltrevolution, ein «tragi-komischcs Missverständnis» ist. Insofern kennzeichnet die Weglassung des Fragezeichens mehr die Entwicklung der Kommunisten als die der Webbs. Vergesst nicht die politischen Gefangenen!