Der untenstehende Artikel von Hilde Meisel erschien in der Nr. 10 (15.05.1937), Jg. 12. 1937, S. 220 - 222 der "Sozialistische Warte" unter dem Namen Hilda Monte. Entnommen ist er dem Archiv der Sozialistischen Warte auf http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm H-Monte: Neues Labour-Programm. Das im März 1937 veröffentlichte Sofort-Programm der Labour Party enthält die Massnahmen, die die LP innerhalb von fünf Jahren durchzuführen beabsichtigt, wenn sie im Parlament eine Mehrheit erhält. Es soll Wähler der heutigen Regierungsparteien von der Vorzugswürdigkeit der LP überzeugen und darüber hinaus den Linken klarmachen, dass keine Volks- oder Einheitsfront, sondern die LP die Führung zu Frieden und Sozialismus übernimmt. Die Rechten sowohl wie die Linken werden an dieses Programm herangehen mit den Fragen: Welche Aussenpplitik würde die LP heute machen? Würde sie aufrüsten? Was würde sie innerhalb von fünf Jahren für den Sozialismus tun? Besonders die ersten beiden Fragen liegen heute jedem auf dem Herzen, und darum werden die meisten Leser zuerst die letzte Seite des Programms lesen: «Aussenpolitik und Verteidigung. Eine Labour-Regierung wird alles ihr Mögliche tun, um die wirtschaftlichen Ursacheu internationaler Konflikte zu beseitigen und allen friedfertigen Nationen, zu fairen Bedingungen, einen Anteil an den ungeheuren Schätzen der Erde zu gewähren. Sie wird die Führung übernehmen in dem Versuch, den Völkerbund zu stärken und neu zu beleben, als Instrument internationaler Zusammenarbeit und kollektiver Sicherheit. In allen Bemühungen, das gegenwärtige verderbliche Wettrüsten aufzuhalten und Abrüstung durch internationale Verständigung herbeizuführen, wird sie die Ihr zukommende Rolle übernehmen, besonders um die nationalen Luftstreitkräfte durch eine internationale Luftpolizei zu ersetzen und einen internationalen Zivilluftdienst einzurichten. Ohne zu zögern, wird eine Labour-Regierung hinreichende Streitkräfte unterhalten für die Verteidigung unseres Landes und für die Erfüllung unserer Verpflichtungen als Mitglied des Britischen Weltreichs und des Völkerbundes.» In diesem Programm steht manches, was man als den Frieden fördernd deuten kann. Nur kann man es leider auch anders deuten. Es ist, zum Beispiel, im Interesse des Friedens, mit allen friedliebenden Nationen eine gerechtere Verteilung der Naturschätze der Erde anzubahnen. Aber: nach welchem Prinzip wird entschieden, welche Nation friedliebend ist und welche nicht? Wird es entschieden durch Interviews mit den Oberhäuptern dieser Staaten, wie George Lansbury es tut (mit dem Beifall von Labour-Presse und -Abgeordneten); oder nach dem Prinzip, das Major C. R. Attlee im Vorwort zu dem soeben erschienenen Buch «The Road to War» vertritt? Dort schreibt er: «Achtung des Völkerbundspaktes bedeutete und bedeutet Opposition gegenüber den reaktionären und konservativen Mächten in Europa, und Zusammmenarbeit mit den Mächten, die für sozialen Fortschritt sowohl als auch für die Aufrechterhaltung des internationalen Rechtes eintreten. ... Eine Regierung, die innenpolitisch grundsätzlich reaktionär ist, kann aussenpolitisch nicht wirksam für den Frieden eintreten.» Eine so eindeutige Erklärung ist in dem vorliegenden Programm nicht enthalten, weder zum Verhalten einer Labour-Regierung gegenüber den faschistischen Mächten, noch in Bezug auf die Massnahmen, die sie zur Belebung des Vöhkerbundes ergreifen will. Auch zur Frage der Aufrüstung wird nicht sehr klar Stellung genommen. Man kann nur aus der «wohlwollenden Neutralität» der LP im Parlament schliessen, dass sie das Rüstungsprogramm der Nationalen Regierung für die Bereitstellung «hinreichender» Streitkräfte für notwendig hält. Etwas klarer geht aber das Prinzip der LP-Wehrpolitik aus dem Programm hervor: 1. Verteidigung unseres (!) Landes. 2. Verteidigung des Weltreichs. 3. Erfüllung von Völkerbundsyerpflichtungen. Die für eine Labour-Regierung erforderlichen Streitkräfte müssen also nicht nur für die Verteidigung der britischen Inseln und für die Erfüllung der Völkerbundsverpflichtungen reichen, sondern auch (unabhängig von kollektiver Sicherheit und Völkerbund) für die Verteidigung des Weltreichs - nicht zuletzt gegenüber den Bewohnern der zu «beschützenden» Länder, im Interesse britischer Kapitalisten. Jedenfalls ist man berechtigt - in Ermangelung genauerer Angaben im Programm der LP - diesen Punkt so auszulegen, wie er auch üblicherweise ausgelegt wird. Diese Auslegung entspricht zudem völlig 'er allgemeinen Haltung der LP zur Frage des Imperialismus (1). Die Probleme des Empire werden im übrigen in dem Programm mit keinem Wort erwähnt; nicht einmal Indien, wo die Krise um die neue Verfassung sich mit jedem Tag mehr zuspitzt; die LP fürchtet durch Eingehen auf derart brenzliche Fragen, Wählerstimmen zu verlieren. Am Ende der letzten Seite liest man: «Ein Gesetzentwurf wird vorgelegt werden, der es der Regierung ermöglicht, Munitionsbetriebe zu übernehmen». Ist das ein verschämter Hinweis auf eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie? Oder soll es über einen Entwurf nicht hinausgehen? Wie das ganze aussenpolitische Programm kann auch dieser Satz viel bedeuten, aber ebenso gut herzlich wenig. Man neigt eher dazu, herzlich wenig zu erwarten; denn wer einen kühnen Plan zur Rettung des Friedens hat, braucht ihn nicht hinter unklaren Phrasen zu verbergen. * Soviel zur Sicherung des Friedens. Ausser für ihn will die LP für Sozialismus und Demokratie kämpfen. «Die Labour Party ist entschlossen, die Schätze unseres Landes so auszunutzen, dass wirklicher Wohlstand geschaffen wird, an dem alle teilhaben sollen. ... Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn Finanz, Handel, Industrie und Landwirtschaft unter Leitung des Staates einem nationalen Plan unterworfen sind. ... Eine Labour-Regierung wird beweisen, dass das demokratische System, unter Achtung der Freiheit und Rechte von Minderheiten, schnell und wirksam funktionieren kann. Sie wird es nicht zulassen, dass ihre Massnahmen durch Obstruktion seitens Finanzinteressen oder unrepräsentativer Körperschaften hintertrieben werden.» Es gibt zwei Wege, solche Obstruktion zu verhindern: entweder rüttelt die Regierung so energisch an den Grundfesten der kapitalistischen Machtpositionen, dass keine Sabotage Erfolg verspricht - oder sie geht so milde vor, dass keine Sabotage nötig ist. «Die LP fordert: Verstaatlichung des Grund und Bodens, Transportwesens, Bergbaus, der Energieerzeugung und der Bank von England sowie eine staatliche Investierungskontrolle. Ferner: Lohnerhöhungen, 40-Stunden-Woche, jährlichen Urlaub, Heraufsetzung des schulpflichtigen Alters, die Einführung neuer Industrien in die Notstandsgebiete u.s.w.» Werden damit die kapitalistischen Machtpositionen bedroht? Nicht durch die Verstaatlichung mancher Wirtschaftszweige; denn die LP sagt selber in ihrem Programm: «Die Bank von England, gleich den Zentralbanken in den meisten ändern Ländern, wird ein öffentliches Institut werden.» «In den meisten ändern Ländern» sind die Zentralbanken bekanntlich nicht der kapitalistischen Herrschaft entzogen worden dadurch, dass sie «öffentliche Institute» geworden sind. Auch die unter der Volksfront vorgenommene «Umwandlung» der Bank von Frankreich hat an deren kapitalistischer Geschäftsführung nichts geändert. Die Tatsache, dass Wirtschaftszweige in Staatseigentum übergehen, oder unter staatliche Kontrolle kommen, schliesst nicht aus, dass sie im Interesse der Kapitalisten verwaltet werden. Da überdies «für alles in öffentliche Hände übergehende Privateigentum ein angemessener Preis gezahlt werden wird», ist damit zu rechnen, dass die Kapitalisten diese Entschädigung zum Ausbau ihrer Machtpositionen und zur Sabotage benutzen werden, wenn sie sich die Umwandlung überhaupt erst gefallen lassen. Wie wird es dann sein mit dem «wirksamen Funktionieren des demokratischen Systems» und mit der Verhinderung von Obstruktion? Erst ganz kürzlich, bei Gelegenheit der Einführung der neuen Profitsteuer, zeigte sich, was in derartigen Fällen zu geschehen pflegt: «die City» geriet in Aufregung, an der Börse fielen die Papiere - und Mr. Alexander, als Vertreter der LP, machte dem Schatzkanzler Vorwürfe, eine derartige Beunruhigung der Wirtschaft hervorgerufen zu haben (2). Und doch ist, vom demokratischen Standpunkt aus, «die City» eine höchst unrepräsentative Körperschaft. Die Erfahrung in Frankreich zeigt aufs Neue, dass die Macht des Kapitalismus nicht durch Parlamentsbeschlüsse und nicht durch Lohnerhöhungen, die in der Regel nur auf die Preise abgewälzt werden, ge- brochen werden kann. Wie will die LP den Widerspruch der herrschenden Klasse überwinden? Darüber gibt das Programm keine Auskunft. Und trotzdem wird dieser Teil des Programms auf viele Sozialisten in der LP seine Wirkung nicht verfehlen. Sie glauben noch immer, wenn nur erst verstaatlicht wird, dann marschiert auch schon der Sozialismus, besonders wenn es eine Labour-Regierung ist, die verstaatlicht. Und sie werden bereit sein, der Regierung, auch wenn sie sich in vielen Fragen als reaktionär erweist, zu vertrauen, solange sie auf die versprochene Verstaatlichung der Schlüsselindustrien hoffen können. Andererseits hindert gerade dieser Teil des Programms die LP daran, den Platz der alten liberalen Partei einzunehmen; denn weite Kreise des Mittelstandes, die mit der gemässigten sozial-imperialistisch-monarchistischen Linie der LP sympathisieren, werden hinter den Sozialisierungsplänen der LP eine völlige Aufhebung des Privateigentums wittern und sich dadurch abgestossen fühlen. Diejenigen Bürger, die Angst vor der Verstaatlichung haben, werden durch dieses Programm also nicht zu Labour-Anhängern bekehrt werden, aber auch diejenigen nicht, die im Interesse des Friedens zur Unterstützung der LP bereit wären, wenn diese eine klare und Vertrauen einflössende aussenpolitische Linie auf zuweisen hätte. Erst recht aber werden sozialistische Gegner der LP durch dieses Programm nicht gewonnen werden; denn die Unklarheiten im Programm werden durch die eindeutig reaktionäre Praxis der Partei geklärt, und auch glühende Anhänger der Planwirtschaft wissen, dass mit dieser allein nicht alle Uebel geheilt werden können. Die LP ist selber mit dem kapitalistischen System viel zu sehr verfilzt, als dass sie ihm ernsthaft zu Leibe rücken könnte; sie ist mit ihm verfilzt durch diejenigen, die ihren Parteiapparat beherrschen, die sich vom «König zum Ritter schlagen» lassen und sich aktiv an der Krönung des Oberhaupts des grössten und raffgierigsten Weltreichs der Erde beteiligen; zu sehr glaubt die LP, um überhaupt eine Mehrheit im Parlament zu gewinnen, abhängig zu sein von der Unterstützung von Nicht-Sozialisten und für deren Gewinnung wiederum von der Unterstützung des kapitalistischen Propagandaapparats und dem Wohlwollen der herrschenden Klasse; zu gross ist aber auch - ganz abgesehen von alledem - die Angst der Labour-Führer davor, dass die Kapitalisten gegen eine sozialistisch-aktive Arbeiterbewegung faschistische Mordbanden mobilisieren könnten, deren Ueberwindung sie sich nicht zutraut. Weit davon entfernt, den von Krieg und Faschismus bedrohten, unter Elend und Arbeitslosigkeit leidenden Massen einen kühnen Kampfplan vorzulegen, versucht die LP darum lediglich, durch Vermischung einiger von Sozialisten allgemein vertretener Reformen mit unklaren Allgemeinheiten die Berechtigung ihres Führeranspruchs zu beweisen. Doch der Beweis misslingt. Für denkende Sozialisten ist das Programm zu hohl und für die anderen nicht demagogisch genug. (1) Lord Bnell, ein prominentes Mitglied der LP, sagte kürzlich im Rmndfunk, dass das Empire, das vor einer Generation (von der Linken) angegriffen worden sei, nicht mehr existiere. Die LP begegne dem neuen Empire mit einer neuen Philosophie. («New.s Chronicle» vom 22. April 1937.)